Deutschland mit den Augen eines Syrers
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Vertrautheit im Park: Wie soll Yahya Al-Aous seiner Tochter erklären, dass es in Deutschland anders ist als in ihrer Heimat
Vor drei Monaten erreichten wir Deutschland, aus Syrien über Libanon kommend. Wir kamen mit dem Flugzeug, hatten eine einfache Reise – im Vergleich zu den Wegen, die die meisten Syrer einschlagen müssen. Meine Familie und ich dürfen nun in Berlin leben. Auf den ersten Blick erfüllt die Stadt meine Idee einer europäischen Metropole – sauber, lebendig, sicher und grün. Hier zu sein bedeutet für mich, an einem sicheren Platz zu sein, ohne Bomben, Panzer und Checkpoints. Aber auch, in einer neuen Lebensphase, einer neuen Realität zu sein, von der ich nicht weiß, wie lange sie andauert.
Eine Variante der neuen Realität erwartete mich und meine neunjährige Tochter in Berlin an einer Bushaltestelle. Wir wollten zurück in unser Übergangswohnheim, als mein Blick auf ein junges Liebespaar fiel. Die beiden tauschten heiße Küsse in inniger Umarmung aus – als seien sie allein auf der Welt. Zum ersten Mal sah ich so eine Szene in der Öffentlichkeit – und es überraschte mich. Noch mehr überraschte mich aber, dass die anderen Wartenden das Geschehen nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen schienen.
Nur meine Kleine starrte das Paar an – mit einer Mischung aus Überraschung und Schüchternheit. Automatisch legte ich meine Hand auf ihre Augen, dann schob ich meinen Körper als Sichtschutz zwischen die Liebenden und mein Kind. Meine Reaktion war auch ein Schutz meiner selbst: Ich wollte meine Frau und mich vor einem kindlichen Fragesturm schützen. Denn meine Frau und ich fühlen uns noch nicht bereit, derartige Situationen erklären zu können. Also blieb mir nichts anderes übrig – vorerst.
Obwohl ich nicht aus einem besonders religiösen oder konservativen Umfeld stamme, so komme ich doch aus einer Gesellschaft, die Frauen als Bürger zweiter Klasse betrachtet und emanzipierte Mädchen, die sich weder von der Familie noch der Gesellschaft etwas vorschreiben lassen, Prostituierten gleichstellt. In Syrien wäre es nicht vorstellbar, dass eine Frau öffentlich küsst – auch nicht ihren Ehemann. Auf ihrem Schulweg wird meine Tochter noch weitere küssende Paare beobachten. Mir ist klar, dass ich sie davor nicht bewahren kann, und gleichzeitig will ich es auch nicht. Bewahren will ich sie nur davor, unsere alte Heimat Syrien ständig mit unserer neuen Realität Deutschland zu vergleichen.
Ohne Jobcenter kein ÜberlebenDas Erste, was ich hier in Berlin gelernt habe, ist der Weg zum Jobcenter, dem wichtigsten Ort für Menschen auf der Flucht. Ohne Jobcenter kein Überleben – das Center zahlt, damit man weiter nach vorne schauen kann. Andererseits kommt es mir vor, als ob die Mitarbeiter dort die deutsche Sprache als Druckmittel einsetzen. Die Angestellten weigern sich meist, eine andere Sprache außer Deutsch zu sprechen. Sie verlangen von mir Antworten auf Deutsch, dabei zeigen doch meine Papiere, dass ich erst seit Kurzem hier bin – wie sollte ich die Sprache schon beherrschen? Ich glaube, dieser Umgang soll den Druck, schnell zu lernen, steigern. Aber ob das tatsächlich hilft?
Viele Menschen hatten mich vor ein paar deutschen Städten gewarnt, sie seien gefährlich, die Menschen rassistisch. Auch Teile Ostberlins sollen gefährlich sein. Unter uns Menschen auf der Flucht verbreiten sich solche Nachrichten schnell, oft sind sie übertrieben. Mich wundert nur, dass solche Nachrichten aus dem östlichen Teil Deutschlands kommen, dem Teil, der sich früher mit Schlagworten wie „Gerechtigkeit“ und „Solidarität“ für meine Welt, die sogenannte Dritte, engagierte. Ich frage mich, ob die Regierung diese Fälle streng genug verfolgt.
Niemand versteht den Schienenersatzverkehr
Meine deutschen Freunde haben mich nicht nur mit einem Regenschirm und einem Stadtplan ausgestattet. Sie haben uns auch die günstigsten Supermärkte gezeigt und erklärt, was man kaufen sollte. Auf die Schnelle konnte ich mir nur merken: „Nicht Bio kaufen, weil: zu teuer. In den unteren Regalen gibt es fast identische Produkte billiger, nur nicht so bunt verpackt, an der Seite den Zuckeranteil studieren, bei den Cerealien für die Kinder besonders beachten.“ Dann die Merksätze zum Straßenverkehr: Autos halten nicht wie in Syrien an, wenn man die Straße überqueren will. Unbedingt immer den roten Fahrradweg (unbekannt in Damaskus) beachten! Ebenso wie die Gültigkeitsdauer eines U-Bahn-Tickets: zwei Stunden!
Berlin ist für mich eine typische westeuropäische Stadt. Der öffentliche Nahverkehr funktioniert, es ist sauber, grün und bislang habe ich mich noch nicht bedroht gefühlt. Berlins lange Arme umarmen mich einfach, sie erinnern mich ständig daran, dass ich in Europa bin.
Yahya Al-Aous (41) ist syrischer Journalist. Er saß von 2002 bis 2004 im Gefängnis. Seit zwei Monaten lebt er mit seiner Familie in einem Übergangswohnheim in Berlin. Übersetzung: Jasna Zajcek
Die nächste Kolumne von Carolin Emcke erscheint in der Ausgabe vom 5./6. September.